Die Tragödie des Jaguar XJ: Warum die Legende sterben musste

Es gibt Namen in der Automobilgeschichte, die für eine ganze Nation stehen. Rolls-Royce für den ultimativen Luxus, Porsche für den Sportwagen, und Jaguar XJ für die unvergleichliche, katzenhafte Eleganz der britischen Oberklasse. Über 50 Jahre lang war der XJ das Flaggschiff, der bevorzugte Dienstwagen von Premierministern und der Inbegriff des stilvollen Gleitens. Seine Geschichte hätte mit einem revolutionären, vollelektrischen Modell einen neuen Höhepunkt erreichen sollen. Doch das Auto kam nie.

Die Geschichte des Jaguar XJ ist zu einer modernen automobilen Tragödie geworden. Sein glorreiches Benzin-Zeitalter endete 2019, und sein bereits fertig entwickeltes, vielversprechendes elektrisches Zukunftskapitel wurde in letzter Minute vom eigenen Management gestrichen. Wir bei H-H-AUTO führen keine Testfahrt durch, sondern eine Autopsie. Eine Analyse, wie eine Ikone sterben konnte und was dies über die riskante, ungewisse Zukunft der gesamten Marke Jaguar aussagt.

Das Wichtigste in Kürze

Die Ära des Benzins: Ein Nachruf auf eine Legende (1968-2019)

Seit der Vorstellung des ersten XJ (Series I) im Jahr 1968 war er das Herz der Marke. Er kombinierte wie kein anderes Auto seiner Zeit den Komfort einer Luxuslimousine mit der Agilität einer Sportlimousine. Über Jahrzehnte war er der Inbegriff des “Gentleman’s Express”. Die letzte Generation (X351, 2009-2019) brach radikal mit dem Retro-Design seiner Vorgänger und präsentierte sich mit einer fließenden, fast schon futuristischen Coupé-Linie. Er war ein wunderschönes und dynamisches Auto, das sich jedoch nie wirklich gegen die deutsche Phalanx aus Mercedes S-Klasse, BMW 7er und Audi A8 durchsetzen konnte.

Die verpasste Zukunft: Der fast fertige elektrische XJ

Als die Produktion des X351 endete, arbeitete Jaguar mit Hochdruck an seinem Nachfolger, der die Marke in die elektrische Zukunft führen sollte. Dieser neue, vollelektrische XJ war weit mehr als nur eine Idee. Er war praktisch fertig.

• Plattform: Er basierte auf der neuen, hochmodernen MLA-Plattform (Modular Longitudinal Architecture) von Jaguar Land Rover.
• Konzept: Er war als direkter Konkurrent zum Mercedes EQS und Porsche Taycan konzipiert – eine große, luxuriöse und dynamische Elektro-Limousine.
• Status: Laut Berichten aus der Industrie, unter anderem von Autocar UK, waren die Prototypen bereits auf der Straße, das Design war finalisiert und der Produktionsanlauf stand kurz bevor. Das Auto war zu schätzungsweise 90% fertig entwickelt.

Die Automobilwelt wartete gespannt auf den ersten echten elektrischen Luxus-Jaguar, der das Erbe des XJ antreten sollte.

Die “Reimagine”-Strategie: Warum Jaguar seine eigene Zukunft kassierte

Der Schock kam im Februar 2021. Der neue CEO von Jaguar Land Rover, Thierry Bolloré, verkündete seine neue, radikale Strategie namens “Reimagine”. Die Kernpunkte:

1. Jaguar wird ab 2025 zu einer reinen Elektromarke.
2. Jaguar wird extrem nach oben positioniert, um nicht mehr mit BMW oder Mercedes, sondern mit Bentley und Aston Martin zu konkurrieren.
3. Im Zuge dieser Neuausrichtung wurden alle “alten” Projekte, die nicht zu dieser neuen, ultra-exklusiven Vision passten, gestoppt.

Das prominenteste Opfer dieser Strategie war der fast fertige elektrische Jaguar XJ. Die Begründung: Er sei als Konkurrent zum Mercedes EQS konzipiert und damit “nicht exklusiv genug” für die neue Bentley-Liga. Jaguar zog seinem eigenen, zukünftigen Flaggschiff den Stecker. Ein finanzieller Abschreibungsposten von über einer Milliarde Pfund, so wird gemunkelt.

Analyse: Geniestreich oder historischer Fehler?

War diese Entscheidung ein mutiger Befreiungsschlag oder ein fataler Fehler?

• Die Argumente dafür: Jaguar war in der Tat in einer Zwickmühle gefangen – nicht so prestigeträchtig wie die deutschen Premium-Marken, aber zu teuer, um ein Volumenhersteller zu sein. Die “Reimagine”-Strategie ist der Versuch, dieser Falle durch die Schaffung einer klaren, profitablen Ultra-Luxus-Nische zu entkommen.
• Die Argumente dagegen: Ein fast fertiges, hochmodernes Elektroauto zu streichen und die Marke über Jahre hinweg ohne ein einziges neues Modell zu lassen, ist ein enormes Risiko. Jaguar befindet sich seitdem in einer “Zombie-Phase”, in der nur die alternden Modelle (F-Pace, E-Pace etc.) verkauft werden, während man auf eine ungewisse Zukunft wartet. Man hat nicht nur ein Auto, sondern auch eine Brücke in die neue Ära geopfert.

Fazit: Wer war, wer ist und wer wird Jaguar sein?

Die Geschichte des Jaguar XJ ist eine Lektion darüber, wie schnell sich das Schicksal einer Legende im modernen Automobilgeschäft wenden kann. Sie zeigt, dass selbst ein fast fertiges, technologisch fortschrittliches Produkt einer radikalen Vision aus der Vorstandsetage zum Opfer fallen kann.

Die Annullierung des elektrischen XJ war entweder ein Geniestreich, der die Marke Jaguar langfristig retten wird, indem er ihr eine neue, profitable Identität gibt, oder ein historischer Fehler, der die Marke von ihrem Erbe und ihren treuen Kunden entfremdet hat. Die Antwort darauf wird uns erst die Zeit geben.

Vor- und Nachteile (der Strategie)

Urteil des Redakteurs

Der Jaguar XJ ist nicht mehr. Er ist ein Geist, der uns daran erinnert, was war und was hätte sein können. Er ist das Symbol für eine Marke im Umbruch, die alles auf eine Karte setzt. Man kann den Mut, der hinter der “Reimagine”-Strategie steckt, nur bewundern. Aber man kann sich auch des Gefühls nicht erwehren, dass es ein Fehler war, das eigene, fast geborene Kind zu opfern, in der Hoffnung auf eine noch glorreichere, aber völlig ungewisse Zukunft. Der XJ fehlt. Und mit ihm fehlt ein Stück der Seele von Jaguar. Für einen Überblick über die Autos, die es tatsächlich auf unsere Straßen schaffen, besuchen Sie wie immer H-H-AUTO.

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